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SITUATIONEN - Kunst. Leben. Alltag. Übergänge. Durchdringungen.

Seit einigen Jahren beschäftigt sich die Kunstwelt erneut mit den Situationisten. Retrospektiven in Basel und Karlsruhe versuchten Bestandsaufnahmen und zeigten die Wirkung auf spätere Generationen, insbesondere heutige Medienkunst. Guy Debord als zentrale Figur der Bewegung verfasste 1967 den Traktat „La Société du Spectacle“, in der er die Marx’sche Analyse der Entfremdung zu einer Theorie des Spektakels weiterentwickelt. „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung [représentation] entwichen.“ Das Buch hatte immensen politischen Einfluss auf die Ereignisse 1968ff.

Mutet der marxistische Tonfall heute zuweilen anachronistisch an, zeigt sich doch die Aktualität der Thesen, wenn man die Rolle der Medien im politischen Meinungsbildungsprozess betrachtet: „infotainment“, die Inszenierung von politischen Ereignissen, das „Kommunizieren von“ politischen Inhalten durch die Medien haben heute sogar eine weit größere Macht als noch vor vierzig Jahren. Die Rolle der Kunst in den gesellschaftlichen Prozessen ist nach wie vor grundlegend zu hinterfragen.

Hatten Debords Thesen direkteren Einfluss auf Bildende, konzeptuell oder performativ arbeitende Künstler, muss nach Einflüssen auf Musik sehr gesucht werden. Über Malcolm MacLaren gab es den Einfluss auf Punk, in der Neuen Musik suchte man danach eher vergeblich.

Lucio Capece legte 2007 ein Stück vor, das direkt mit den Thesen Debords als Textmaterial arbeitet. Die traditionelle Aufführungssituation ist durch komplette Dunkelheit bzw. das temporäre Ausleuchten von als eher nebensächlich Betrachtetem gebrochen. Dem Publikum wird in der zweiten Hälfte des Stückes die Möglichkeit übertragen, sich an der Aufführung zu beteiligen – sei es, die Texte Debords wiederholt zu lesen, oder anderes zu sprechen oder was auch immer – das Stück schafft eine absolut offene Situation.

Johnny Chang schrieb ein Stück, das sich ebenfalls direkt auf Debords Buch bezieht. Der Zuschauerraum wird wie eine Bühne ausgeleuchtet, die Performer bewegen sich um das Publikum herum und lesen die Bewegungen und Aktionen der Zuschauer wie eine Partitur, die nach bestimmten Regeln Klangfragmente generiert.
Beide Stücke hinterfragen die traditionelle passive Rolle des Publikums in der gängigen Aufführungssituation.

Die beiden Konzeptkünstlerinnen Christiane ten Hoevel und Michaela Nasoetion (c.o.m.things) streuen auf kleine Karten gedruckte „Handlungsanweisungen“ unter das Publikum. Ebenso werden die „Invisible Performances“ von Adam Overton, Textpartituren von Christian Kesten/Kim Kutner, Mark So, George Brecht, Yoko Ono, Mieko Shiomi, Alison Knowles u.a. als Instruktionen auf verschiedene Weise dem Publikum zugänglich gemacht. Das Publikum hat die Wahl, die Anweisungen als reine Poesie, als Gedankenexperimente oder als direkte Aufforderungen zu lesen und unter Umständen zu beginnen, selbst Performances auszuführen. Die Handlungen selbst sind ephemer bis sehr dezidiert und stellen sowohl ein Kontinuum von zelebrierter Kunst bis hin zu nebenbei ausgeführter Geste her, wie ebenso ein Kontinuum von rezeptiver zu aktiver Haltung des Besuchers.

Die Maulwerker führen im gesamten Gebäude auf mehreren Etagen performative Aktionen aus. Das Publikum findet sich in der offenen Situation, sich die Stücke zu erwandern bzw. Räume zu finden, in denen die eigenen Handlungen zu Kunst oder Alltag zu bewusster Aktion wird.
Die bei Pauline Oliveros in Auftrag gegebenen „Portraits of Maulwerker“ sind in diese Situation integriert. Die Portraits basieren auf den Geburtsdaten der Performer. Klangliches Material findet sich darin ebenso wie persönliche Aktionen. Die offene Partitur bietet dem Ausführenden die Möglichkeit, eigenen Alltag in Kunst zu transformieren.

Mark So: Distant Resolution (2007, UA); A Piece of Traffic (2007, DEA), New Leaves (a mood survives) (2007, DEA)

Steffi Weismann: Passage (2007/08, UA) Intro für 5 Sprecher, Türklingel-Installation und Publikum

Michael Pisaro: The Collection (2000) #7, #8, #14, #20, #21, #25

Lucio Capece: Autour de La société du spectacle (Guy Debord) (2007, (DEA) für Ensemble, 1 Performer und 1 Lichtdesigner

Johnny Chang: Documentation (4): Concert of Spectacles (2003/08, UA) für Teilnehmer und Publikum

Adam Overton: For Performer and Hidden Object (2006/07); For Dick Higgins (2005/06, DEA); From Here to You: Adverbs for Yoko Ono’s Touch Piece (2006, DEA); Invisible Performances (2007, DEA); Whisper Performance (2007, DEA)

Adam Fong: Chimes for Two (2006)

Elana Mann und Adam Overton: Conversation Pieces (2006, DEA)

István Zelenka: Die 10 Angebote (2008, UA); no goal, no conflict, no climax, just doing: viz (2000, DEA)

Bengt af Klintberg: Event for an Unknown Person (1967); Orange Events (1963-1966)

Lau Mun Leng: Soundscape x 100 cm (2008, DEA)

Ariane Jessulat: Tasty Events (2008) (UA)

Christian Kesten und Kim Kutner: The Agreeable People (1988)

Josh Thorpe: Thread (2008, DEA)

George Brecht: Three Gap Events (1961)

c.o.m.things (Michaela Nasoetion, Christiane ten Hoevel) Sammelkarten mit Handlungsanweisungen (12er Set, 2008)

Pauline Oliveros: Portraits of Maulwerker (2007/2008)

maulwerker performing music 3. 07. 2008
Villa Elisabeth Berlin, gefördert von der inm