Ich verstehe die Stimme nicht als gegebene Entität, die gesungenen Klang jeglicher Art produzieren kann. Und gleichzeitig kann ich mich dem gegenteiligen Ansatz, der als Gegenreaktion auf einen fragwürdigen Schönheitsbegriff des traditionellen Stimmklangs aufkam, wie zum Beispiel die Stimme analytisch oder physiologisch zu behandeln, sie bis zu den Phonemen und/oder (stimm-)muskulären Bewegungen zu zerlegen, auch nicht anschließen.

Das wurzelt im Feld der Poetik. Ich ziehe es vor, mit ausgehaltenen Klängen zu arbeiten, da ausgehaltene Klänge einen größeren Einfluss auf ihre akustische Umgebung und Nachbarklänge haben als kurze. Ein anhaltender Klang ist daher herausfordernder, weil er verlangt, klangliche/tonale Zusammenhänge in Betracht zu ziehen, die von Hörgewohnheiten und in dieser Konsequenz von ästhetischen Konventionen abhängen. Diese Situation ist für einen Komponisten, der normalerweise Hörgewohnheiten und klangliche Konventionen eher überwinden, ersetzen, auslöschen, vermeiden will als mit ihnen zu arbeiten, grundsätzlich schwierig.

Mein Ziel ist, beide Pole auszubalancieren. Dieses Stück kann als „reine Musik“ mit „unreinem“ Material beschrieben werden. Ein Kantaten-Archetypus entfaltet sich durch Techniken des „Untersingens“ – vokale Klänge, die nah an gesungenen Tönen sind, jedoch sich immer leicht davon unterscheiden: Mischklänge mit hohem Geräuschanteil. Ebenso wie die Klangfarben oszillieren Tonhöhe und Rhythmus, ihre Notation bleibt flexibel und produziert dennoch Simulakren stabiler Strukturen.

Einen kompositorischen Ansatz, der alle Komponenten von Tonhöhennotation bis hin zu größeren Strukturen mit einschließt, würde ich als unscharfe Logik bezeichnen.

Boris Filanovsky ist Komponist und Vokalist, geboren in Leningrad, lebt in Berlin. www.filanovsky.ru

Boris Filanovsky
Discantata (20', UA 2018)
für 6 Stimmen